Kulturidealismus vs. Kulturimperialismus [ Antwort schreiben | Forum ]
 
von Sven Redaktion am 22.Oct.2003 07:18 


Hallo Dietrich,

Du sprichst von "Fast-Food-und-CocaCola-Kultur als Unkultur" und machst es daran fest, dass diese Kultur Warencharakter habe und Profitinteressen folge, kulturelle Vielfalt vernichte.

Ich habe Vorstellungen von all diesen Begriffen, aber ich sehe sie nicht solchem desaströsen Wirkungszusammenhang.

Gewohnt bin ich zum Beispiel daran, dass Kultur häufig Warencharakter hat, weshalb sie mir nicht sogleich "Unkultur" wäre. Kulturschaffenden geht es damit nicht anders, wenn ihre Leistungen sie nicht ernähren.
  
Da ich ein sparsamer Mensch bin, greife ich mir aus dem allgemeinen Kulturbetrieb zumeist die günstigeren oder kostenlosen Angebote heraus oder "mach' es mir selbst", also Selfmade-Culture, die letztlich nur deshalb kostenlos ist, weil niemand dafür zahlen würde. 
 
Die daraus klaffende Lücke zwischen "weil ich's mir wert bin" und "Verdienst" habe ich deshalb mit "weil es mir wert ist" zu füllen, aber wehe den Usern, wenn ich erst 'mal groß bin:-)
   
Kultur mag harmloser anmuten, solange sie ohne Warencharakter im Privaten ihr Dasein fristet oder im Politischen zu wenige wirklich interessiert. Aber schon da fallen mir genügend Gegenbeispiele ein, um die Harmlosigkeit zu widerlegen. 

Kultur nimmt Warencharakter an, sobald an ihr Mangel herrscht oder hergestellt ist, Kaufkraft existiert, wogegen nur helfen würde, die Kulturwaren entweder zu verbieten oder Kultur besser und kostenlos anzubieten. Solche Versuche gab und gibt es, z.B. Prostitution - und trotzdem gab es sie nicht nur in Pompeji, sondern im strukturellen Format als Bestandteil jeder Gesellschaft.

Cola ist günstiger als Bier (stimmt's?) und zwar ist auch eine Überdosis Cola ungesund, aber Bier scheint eher um den Verstand zu bringen als Cola. Verstandverlust ist für den Menschen gefährlicher. Ergo Cola vergleichsweise sana.

Gibt es Unkultur?
Ich denke, die gibt es. Und zwar möchte ich als Unkultur bezeichnen, was Kultur vernichtet, die es wert wäre, dass man sie bewahrt und entwickelt:

Das "Deutsche Reinheitsgebot"? Weiß ich nicht, aber Gerste, Hopfen, Wasser und Hefe klingt sympathischer als mit chemischen Zusätzen, wären da nicht die Schäden an Hirn, Leber und Figur.

Oder "Goethe", den Inbegriff deutschen Kulturschaffens? Aber Goethe wird heute mehr denn je gelesen, was nicht nur daran liegt, dass es mehr Menschen gibt, sondern am sich global entwickelnden Bildungswesen.

Und wenn einer Goethe nicht liest, liegt es dann an der Sesamstraße? Ich denke, dass es andere Gründe hat. Auch ich durfte keine "Bilderheftchen lesen", wollte das auch nicht, aber erst recht nicht Goethe, sondern trieb mich in anderen mir interessanten Dingen rum. Goethe ist vielen zuhause oder in der Schule eher ein "Zwangs-Goethe", also fast schon "Unkultur" im oben definierten Sinne, was wir heute durch eine Büste im Redaktionsraum wettzumachen versuchen. Das Ding war weiß und staubt schnell ein - niemand möchte bei uns Putzmensch sein. Sind wir für "Unkultur"? Dann offenbar. Und nein, denn Goethe zwar Teil der Kultur, aber Kultur ist auch ohne ihn Kultur.

Worum geht es dann mit der "Unkultur"? Allein dass aufgezwungene Kultur zuwider ist. Das kann dann also auch Goethe sein, das Bier, die Cola.

Gibt es Kultur-Imperialismus?
Ich denke, den gibt es. Und die Antwort ist schon zur Unkultur gegeben: Wenn eine Macht ihre Kultur jemandem anderes überstülpt. Früher durch Eroberungskriege mit schrecklichsten Folgen. Die Mayas, die Inkas, das alte China erlagen weitgehender Kulturausrottung mit Waffengewalt. In Afrika nicht anders, worüber nur weniger bekannt ist.

Und heute? Noch immer ist die entscheidende Größe westlicher Kultur und Weltpolitik die militärische Gewalt, mit der sie sich über jeden kulturellen oder sonstigen Einwand hinwegsetzt. Und wenn ich da pauschalisierend von "westlicher Welt" rede, dann meine ich tatsächlich auch so, weil sich die Haltung zum Irak-Krieg nur an wenigen Prozenten entschied, wie man an Merkel und Schäuble sehen konnte, also eher zufällig war als in einem tiefgreifenden Widerspruch zwischen kulturellen Systemen.

Und ist mir ein Kultur-Imperialismus auch unterhalb der Schwelle von militärischer Gewalt und Drohung vorstellbar? Auch das, aber da verschwimmen mir die Kriterien zu sehr, um ihnen sachlich zu begegnen.

Nur einige will ich nennen:
1. die Korrumpierung der Rohstoff-Staaten, wodurch die Rohstoffe für die industrialisierten Staaten preisgünstig bleiben,
2. die Monopolisierung mit den sich daraus ergebenden Missbrauchsmöglichkeiten,
3. die Patentierung von Wissen und Leistungen, dessen Sinn nicht die Verrechtlichung, sondern die Entrechtung ist, 
4. die durch Subventionierung ganzer Industrien eingefrorene Ungleichheit auf den internationalen Märkten, die dadurch zu Einbahnstraßen des Wohlstandes und der Verelendung werden, also dem früheren Zollwesen um nichts an Protektionismus nachstehen, sondern im Gegenteil die Entwicklungsländer auch noch in der Eigenversorgung angreifen,
5. die Plünderung des Planeten.

Aber all dies sieht Europa nicht im Widerspruch zu den USA, sondern begreift Europa eher im Windschatten der westlichen Supermacht, die sich nicht zuletzt deshalb mehr "Mitverantwortung Europas" wünscht, worunter sie einzig versteht, dass ihr Imperialismus von denen unterstützt werden soll, die daran ihren Vorteil wollen.

Die "Kultur des alten Europas" bestreite ich nicht, wohl aber den vielerseits behaupteten Gegensatz zur "Kultur des neuen Amerikas".

Aber die Kultur schwebt nicht über den Dingen, so abgehoben diverse Kunst manch HSV-Fan auch scheinen mag, solch Kunstunverstand gibt es wie auch die "Unkultur" nicht erst seit letzter Woche, sondern zieht sich durch alle Epochen.

Kultur schwebt nicht über den Verhältnissen,
sondern ist als Kultur und Kulturbetrieb im engeren Sinne Bestandteil der wirtschaftlichen und politischen Realitäten, mit der fatalen Wirkung, dass in Gegenden, die wirtschaftlich verelenden, schließlich nur noch der Fernseher bleibt. - Bier und Fastfood gehen zuletzt. 

Was als "Unkultur" von anspruchsvolleren Kreisen bezeichnet wird, ist meist nicht etwa das, was das andere böse verdrängt hätte, sondern sich so weit entwickelt hat oder ablenkend ist, dass es sich noch unter den widrigsten Umständen behauptet.

Die "Kultur Europas und Amerikas" bestreite ich nicht, aber schon mein Text verfehlt sein Ziel, KEIN unfaires Feindbild ("gegen die westliche Welt") zu zeichnen.

Und ich tue mich schwer, konkret genug Alternativen erahnbar zu machen, denn die Sorge ist, dass die positiven Kulturmerkmale der westlichen Welt nur noch zur Rechtfertigung für das Verhängnis taugen, zu dem die "Freie Welt" durch ihr noch immer "letztes Mittel" = Krieg der Drittwelt, Umwelt und Menschheit als Ganzes zu werden droht, eben "Imperialist".

Und was könnte die Alternative sein? Vor allem die Gier und Verschwendung müssen gezügelt werden. Und das heißt das Gegenteil von dem, worauf die Parteien in Summe ihrer Wahlkampfversprechen die Menschen ködern, das bedeutet also: teurere Lebensmittel, weniger Müll, weniger Tourismus, ... - und das alles, ohne dass die Systeme als Ganzes kollabieren, denn das würde jede Entwicklung sofort wieder umkehren. Die Alternative wäre gegenfinanziert aus der Friedensdividende duch Abrüstung.

Und wer sich angesichts solcher Alternativen vor Staaten zu fürchten beginnt, die nicht von ihrer Wachstumsideologie zu solchen des Haushaltens übergehen, der muss eben darauf hinwirken, dass das Gewaltmonopol von den vielen hundert Staaten und Regimes auf einen Weltstaat vereinigt wird, für den es Demokratie und Recht zu erarbeiten gilt.

Im Streit um den Irak-Krieg fanden sich viele Töne, die mir wie Musik waren, wenn es hieß, dass niemand mehr Kriegsrecht habe gegen den Willen der Vereinten Nationen,
aber ich behaupte, dass es überwiegend taktische Motive waren, Angst vor Übertreibungen der Supermacht und vor Überreaktionen weltweit, die schlechter kontrollierbar werden könnten. Der qualitative andere Zwischenton, die andere KULTUR, das Recht als Gleiches für alle - da waren alle gleichermaßen weit von entfernt, auf die es in der Frage von Krieg und Frieden ankam.

Solche "Zwischentöne" kamen auch nicht von Sozialisten und Gewerkschaften, die ebenfalls immer nur "mehr" fordern für ihre Klientel in den Müllproduktionsstätten des 21.Jahrhunderts, auch wenn sie in Zeiten ihrer Macht den "Verzicht" propagieren, aber ohne sich von ihrer Wachstumsideologie zu verabschieden.

Und was die Sache noch schwieriger macht: ich klage gar nicht das Wachstum an, sondern die Verschwendung als Triebkraft des Wachstums.

Kultur. Das ist die schöne Armbanduhr. Die Musik, die Lyrik inklusive Dieter Bohlen. Aber nicht alle Herrlichkeit für jeden. Die Pyramiden am Nil taugen nicht für den Wochenendausflug, der Tibet nicht für alle, die ihre "eigenen Grenzen erfahren" zu dürfen glauben und Thailand nicht für alle, denen die Schlepperbanden die Liebe in Deutschland zu teuer machen.

"Der Deutsche" hat kein "Recht auf Bali", solange dieses Recht darauf beruht, dass "der Afrikaner" kein Geld für das Oktoberfest hat.

Was also ist Kultur, die uns Futter und Rechte so ungleich verteilt? Das Feindbild USA taugt da zu nichts, denn Deutschland wäre nicht soeben erneut "Exportweltmeister" geworden, wenn es durch amerikanisches Fastfood zugrunde ginge:

In dieser Woche lief der erste BMW in China vom Band. Ein "325i". Wir kennen den Verbrauch. Wir kennen die Zahl der Chinesen. Vorerst sollen in China pro Jahr 30.000 BMW vom Band laufen und die dortigen sozialen Unterschiede auf den Straßen unterstreichen helfen. BMW möchte sicherlich bald mehr in und für China bauen. Und wohl auch andere Automobilkonzerne. China erwartet ein Wirtschaftswachstum von 10 Prozent, was weniger ist als es scheint, denn 10 Prozent von "im Vergleich zu Europa" ist fast nichts von fast nichts. Und trotzdem ist es eine Geschwindigkeit, mit der 1,27 Mrd. Menschen in den Ressourcenverbrauch der westlichen Welt einsteigen. BMW ist dabei relevanter als Coca Cola. Kultur auf vier Rädern. Aus Germoney. Die Amis werden Mühe haben, da mitzuhalten, wenn sie zu viele Kriege führen. - Aber beides ist irrational.

Ein zumindest vorläufiger Unterschied der Irrationalität zum Menschen liegt darin, dass sie sich vermehrt, wenn man sie zwei- oder vierteilt.

Darum sehe ich mich "in einem Boot mit unseren transatlantischen Freunden" - und überlege, wie man die Geschütztürme von Bord bekommt, um Platz für jene zu schaffen, die sich im Wasser am schwimmenden Müll unseres Bootes festzuhalten versuchen und massenweise ertrinken.

Grüße von Sven
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